Die Polarexpedition Mosaic, bei der ein deutsches Forschungsschiff sich von der arktischen Eisdrift am Nordpol vorbeischieben lässt, hat ein historisches Vorbild. Anders als heute ging es einst um Leben und Tod.
Bereits 126 Jahre vor der Expedition des deutschen Forschungsschiffs Polarstern hat der Norweger Fridtjof Nansen sein im arktischen Eis eingefrorenes Schiff Fram durch die Eisdrift am Nordpol vorbei von den Neusibirischen Inseln bis fast vor die grönländische Küste schieben lassen.
Während die Forscher heutzutage nach einigen Monaten Dienstzeit auf der eingefrorenen Polarstern von einem russischen Spezialhelikopter ausgeflogen werden, riskierte Nansen einst noch sein Leben und das seiner zwölf Gefährten. Denn sie waren im Eis gefangen. Und bis zu diesem Zeitpunkt waren die meisten eingefrorenen Schiffe vom arktischen Eis zerdrückt worden und gesunken. Unzählige Crewmitglieder von Polarexpeditionen hatten so ihr Leben verloren.
Die Eisverhältnisse in der Arktis waren – vor Beginn des Klimawandels – auch deutlich gefährlicher. Die durchschnittliche Fläche des arktischen Eises hat sich allein seit Beginn der Satellitenmessungen im Jahr 1979 um rund ein Viertel verringert. Man schätzt außerdem, dass die Eisdicke im Sommer allein seit der Jahrtausendwende um 50 Prozent zurückgegangen ist. Dadurch gibt es nur noch sehr wenig mehrjähriges Eis, das sich zu Nansens Zeiten noch großflächig zu Packeisbarrieren auftürmte.
Die veränderten klimatischen Verhältnisse und gleichzeitig die Unterstützung durch moderne Eisbrecher erlauben der Polarstern, die Reise in einem Jahr zu absolvieren, während die Fram drei Jahre driftete.
Über die Eisdrift wusste man bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts kaum etwas. Dann kam es zu einer der vielen tragisch endenden Expeditionen, bei der das amerikanische Forschungsschiff USS Jeannette im September 1879 vor der sibirischen Küste festfror. Bis Juni 1881 driftete das Schiff mit dem Eis knapp 600 Seemeilen, mehr als 1.000 Kilometer, nach Nordwesten. Schließlich wurde es zerdrückt und sank. Beim Versuch, das Festland zu erreichen, verloren 20 der 33 Crewmitglieder, die bis dahin auf dem Schiff ausgeharrt hatten, ihr Leben.
Drei Jahre nach dem Untergang tauchten Wrackteile der Jeannette mehr als 4.000 Kilometer entfernt auf, nämlich auf der anderen Seite des Nordpols im Fjord von Julianehåb an der Südwestküste Grönlands. Die im Treibeis eingeschlossenen Gegenstände enthielten Kleidungsstücke mit den Namen von Crewmitgliedern der Jeannette.
Daraufhin veröffentlichte Henrik Mohn, damals einer der führenden norwegischen Ozeanografen, die Hypothese einer transpolaren Drift. Dafür sprachen noch weitere Indizien, etwa Treibholz aus Sibirien, das in Grönland angeschwemmt wurde. Man hatte sogar in Treibeis vor Grönland aus Sibirien stammende Sedimentspuren und Kieselalgen nachgewiesen. Es gab daher die Vermutung, dass die gewaltigen Tauwassermengen, welche von den sibirischen Strömen im Frühjahr ins Polarmeer ausgestoßen wurden, eine kontinuierliche transpolare Eisdrift auslösen und das Eis der arktischen Polkappe beständig von Sibirien aus in Richtung Grönland schieben würden. Von Anfang an befanden sich Mohn und seine Anhänger, zu denen der junge Wissenschaftler Fridtjof Nansen gehörte, jedoch unter Wissenschaftlern in der Minderheit.
Die Wissenschaftler der britischen Royal Geographic Society etwa widersprachen Nansens Theorie von der Eisdrift nahezu einhellig. Der renommierte britische Polarforscher Sir George Nares, der bis dahin den Rekord der nördlichsten von einem Menschen je erreichten Position hielt, war der Auffassung, wenn das Eis drifte, seien nur polare Winde die Ursache. Richtung und Intensität der Eisdrift seien daher kaum vorhersagbar. Die Winde würden das Eis aber in erster Linie westwärts verschieben und nicht geradewegs nach Norden.
Heute weiß man, dass arktische Winde, aber auch die von der Erddrehung verursachte Corioliskraft hauptverantwortlich für die Eisdrift sind, so dass diese sich deutlich anders verhält als von Mohn und Nansen vermutet. Seinen Irrtum sollte Nansen beinahe mit dem Leben bezahlen.
Im Jahr 1890 schlug Nansen der Norwegischen Geographischen Gesellschaft eine Expedition zum Nordpol vor. Er wollte die Eisdrift nutzen, um ein Schiff vom Eis über den Pol schieben zu lassen. Das Schiff, die Fram, sollte sich bei den Neusibirischen Inseln gezielt im Eis einfrieren lassen und dann über den Pol driften. Die Fram sollte anders gebaut sein als normale Schiffe: Der Rumpf sollte so flach und rund geformten sein, dass der Eisdruck das Schiff nicht zerbrechen, sondern nur nach oben, aus dem Eis, drücken konnte. Dem Eis sollte die Angriffsfläche genommen werden. Mit Hundeschlitten, so Nansens Plan, wollte er dann die restliche Distanz zum Nordpol überwinden.
Dass seine Annahmen über die Eisdrift falsch waren, hat Nansen erst erkannt, als er und seine Mannschaft mit der Fram bereits lange im Eis feststeckten. Vor allem die Richtungen der wechselvoller als vermutet ablaufenden Drift hatte Nansen falsch eingeschätzt. Anderthalb Jahre nach dem Einfrieren wagte er zusammen mit dem Crewmitglied Fredrik Hjalmar Johansen dennoch die geplante Schlittenfahrt, obwohl die Distanz zum Pol noch immer 680 Kilometer Luftlinie betrug und er darüber hinaus wegen hoch aufgetürmter Packeisfelder oder gerissener Eisdecke mit erheblichen Umwegen zu rechnen hatte.
Eine solch lange Schlittenfahrt ist nicht nur wegen der ungewissen Eisverhältnisse gefährlich, sie ist auch logistisch extrem problematisch. Denn Material, Nahrungsmittel und Futter für die Schlittenhunde führen mit zunehmender Distanz zu einer exponentiell zunehmenden Fracht, die befördert werden muss. Selbst als es fast acht Jahrzehnte später, am 6. April 1969, mit dem englischen Polarforscher Wally Herbert erstmals einem Mensch gelang, per Hundeschlitten zum Nordpol vorzudringen, wurden Herbert und seine drei Weggefährten auf ihrem Weg nach 90 Grad Nord mehrmals von Flugzeugen versorgt.
Ehrgeizig tüftelte Fridtjof Nansen eine ethisch durchaus fragwürdige Methode aus, um dieses Problem zu lösen: Er reduzierte das mitzuführende Hundefutter stark, indem er beschloss, die 28 Schlittenhunde nach und nach zu schlachten und an ihre verbleibenden Genossen zu verfüttern. Am Ende ernährten er und sein Begleiter Johansen sich sogar teilweise selbst von Hundeblut.
Gleichwohl konnten Nansen und Johansen nur gut ein Drittel der Distanz zum Pol überwinden. An 24 Tagen auf dem Eis kamen sie dem Pol gerade einmal 261 Kilometer näher, 419 Kilometer waren sie da immer noch vom Ziel entfernt. Zwar stellte das einen neuen Rekord dar, aber es war zugleich eine Niederlage für Nansen.
Auch nachdem sie umgekehrt waren, gestaltete sich das Vorankommen schwieriger als erwartet. Deshalb mussten die beiden Männer im Norden des unbewohnten Franz-Josef-Archipels, den sie mit viel Glück erreichten, bei bis zu 50 Grad minus überwintern. Sie überlebten nur, weil sie bei einer vorangegangenen Expedition nach Grönland monatelang die Lebensweise der Inuit studiert hatten. Ernähren konnten sie sich nur, indem sie reihenweise Eisbären und Walrosse schossen. Mit dem Fett von Walrossen befüllten sie zudem ihre Öllampen, um in der langen Polarnacht Licht machen zu können.
Fünfzehn Monate nach Verlassen der Fram gelang es ihnen, im Süden von Franz-Josef-Land das Basislager einer mehrjährigen britischen Expedition zu finden. Von dort wurden sie zurück nach Norwegen gebracht.
Die Fram, die den Nordpol weit verfehlt hatte, kam nach zwei Jahren, zehn Monaten und einer Woche nordwestlich von Spitzbergen aus dem Eis frei – zufälligerweise genau am gleichen Tag, als Nansen und Johansen erstmals wieder norwegischen Boden betraten.
Mit Beobachtungssatelliten hat man die Eisdrift mittlerweile recht genau entschlüsselt. Sie besteht aus mehreren großen und kleinen Strömungssystemen. Und auch wenn der Wind eine wesentliche Rolle spielt, kann man die Eisdrift auf Basis langjähriger Mittelwerte mittlerweile doch recht genau vorhersagen. Man weiß auch, dass die Drift sich seit Mitte des letzten Jahrhunderts von etwa fünf auf sieben Kilometer pro Tag beschleunigt hat. Die Polarstern soll sich dem Nordpol auf weniger als 200 Kilometer nähern – eine Distanz die geringer ist als jene, die Nansen mit dem Hundeschlitten zurückzulegen in der Lage war.
Neuerscheinung: Kurzgeschichte zu Nansens Fram-Expedition
Ralf-Thomas Hillebrand: «Drei Jahre im ewigen Eis». In: «Nordmeer: Historische Kurzgeschichten aus der nordischen Seefahrt – nach wahren Begebenheiten» (Band 2), Norderstedt/Berlin 2019 (www.ralf-thomas-hillebrand.de/band2, eBook).
Leseprobe: Komplettes kostenloses eBook der Reihe „Nordmeer“:
Ralf-Thomas Hillebrand: „Die Wiederentdeckung Vinlands”; In: “Nordmeer – Historische Kurzgeschichten aus der nordischen Seefahrt – nach wahren Begebenheiten (Band 1)”, Berlin 2019. Download (gratis): www.ralf-thomas-hillebrand.de/vinland