Auf dem amerikanischen Kontinent gibt es zunehmend Widerstand gegen Feierlichkeiten zum Jahrestag der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus am 12. Oktober 1492. Sogar die Entdeckung selbst gerät in Zweifel.
Am 12. Oktober jährt sich zum 537sten Mal jener Tag, an dem Christoph Kolumbus erstmals amerikanischen Boden betrat. Seit langem ist der Tag in den USA, Spanien und anderen lateinamerikanischen Ländern Anlass für Feierlichkeiten. Doch diese sind politisch zunehmend umstritten.
Den Anfang machte Spanien selbst: Länger als ein halbes Jahrhundert hatte man den 12. Oktober als “ El Día de la Hispanidad ” (Tag der Hispanität) gefeiert und dabei unverhohlen die Kolonialisierung Lateinamerikas bejubelt. 1987 wurde er schließlich in “Fiesta nacional de España” umbenannt.
In Südamerika wurde der Jahrestag seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts gar als “Día de la Raza” , Tag der (hispanischen) Rasse”, zelebriert. Doch dann: In Chile benannte man ihn im Jahr 2000 in „Día del Encuentro de Dos Mundos“ (Tag der Begegnung der zwei Welten) um. Argentinien verwandelte ihn 2010 in den „Día del Respeto a la Diversidad Cultural“ (Tag des Respekts vor der kulturellen Diversität). In Bolivien heißt er seit 2011 „Día de la Descolonización“ (Tag der Entkolonialisierung). Und Ecuador feiert seit 2011 den „Día de la Interculturalidad y la Plurinacionalidad“ (Tag der Interkulturalität und Multinationalität).
In den USA ist der seit über einhundert Jahren mit großem Aufwand begangene “Columbus Day” ein beweglicher Feiertag, der in diesem Jahr auf den 14. Oktober fällt. Auch hier steht er in den letzten Jahren stark in der Kritik. Denn immer mehr US-Bürger wollen nicht, wie es der Anthropologe Jack Weatherford formulierte, die größte Welle von Genoziden feiern, die es in der Geschichte je gegeben hat.
Eine wachsende Anzahl von Bundesstaaten gedenkt deshalb statt Kolumbus’ lieber der Opfer der Völkermorde. Bereits 1990 benannte South Dakota den “Columbus Day” in “Native American Day” um. Im Jahr 2016 schlossen sich Minnesota, Alaska und Vermont einer US-weiten Bewegung an, die den strittigen Tag nun als “Indigenous Peoples’ Day” (Tag der indigenen Völker) zelebriert. 2018 kam der Bundesstaat North Carolina hinzu. In diesem Jahr folgten New Mexico, Maine und Vermont. Außer den Bundesstaaten haben sich seit 2014 auch eine Vielzahl an Städten und Universitäten dem Wechsel zum “Indigenous Peoples’ Day” angeschlossen, darunter Seattle, Minneapolis, Portland, St. Paul, Denver, Phoenix, Austin, Kansas City, Long Beach, Los Angeles, Nashville, Oklahoma City und San Francisco.
Die Aktivisten, die derzeit dafür kämpfen, dass auch Massachusetts den “Columbus Day” abschafft, finden auf ihrer Website besonders kritische Worte zum Entdecker der Neuen Welt: “Kolumbus hat überhaupt nichts entdeckt, außer dass er über tausende indigener Gruppen mit komplexen Gemeinschaften und Ordnungen stolperte” , heißt es dort.
Zweifel an Kolumbus’ Leistungen als Entdecker
In der Tat bleibt bei kritischer Betrachtung nicht allzu vieles, das Kolumbus wirklich entdeckt hat. Da ist zunächst einmal die Tatsache, dass Amerika nach Amerigo Vespucci benannt wurde, weil jener es war, der erkannte, dass es sich bei den ab 1492 unterworfenen Ländereien auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans um einen eigenen Kontinent handelt. Kolumbus selbst ging hingegen bis zu seinem Tode davon aus, im Osten von Hinterindien gelandet zu sein.
Seit 1961 weiß man auch, dass Wikinger bereits knapp 500 Jahre vor Kolumbus – um das Jahr 1000 – Amerika erreichten. Dies beweist die Entdeckung einer Wikingersiedlung in L’Anse aux Meadows auf Neufundland. Sie ist Beleg dafür, dass Kolumbus fünf Jahrhunderte später allenfalls Wiederentdecker war. Aber selbst daran gibt es mittlerweile erhebliche Zweifel.
Die Nordischen Sagas überlieferten nämlich Berichte von der Reise des Leif Eriksson, der offensichtlich der Anführer der Siedler von L’Anse aux Meadows war. Bis 1961 hatten Historiker Zweifel am Wahrheitsgehalt der Sagas. Seitdem jedoch ist klar, dass das sagenhafte Vinland der Überlieferungen wirklich existiert und mit Neufundland identisch sein dürfte. Daraus folgt: Denjenigen, die sich die Sagas jahrhundertelang weiter erzählten, war bekannt, dass es hinter Grönland weitere Landmassen gibt.
Wenn man im Land der Sagas, in Island, von Vinland wusste, konnte es Kolumbus dann nicht auch wissen? Und wenn dem so wäre: Kann Kolumbus als Entdecker Amerikas gelten, wenn er von dem Land bereits wusste, für dessen Entdeckung er heute gefeiert wird?
Kolumbus war, das ergibt sich aus seinen eigenen Aufzeichnungen, im mythischen Thule und segelte von dort noch 100 Seemeilen in den Atlantik hinaus. Zwar können Historiker Thule bis heute nicht eindeutig lokalisieren, allerdings gehen die meisten davon aus, dass es an Norwegens Küste gelegen hat und zwar etwa im Bereich des heutigen Trondheim. Damit lag es weit nördlich von Bergen, das zu dieser Zeit der wichtigste Hafen und die größte Stadt Norwegens war. Der übliche Seeweg nach Grönland führte von Bergen aus über die Shetland- und die Färöer-Inseln nach Island und weiter nach Grönland. Dieser Seeweg wurde bereits über Jahrhunderte genutzt. Hat Kolumbus in Norwegen – vielleicht sogar in Bergen selbst, wo er vorbei gekommen sein muss – davon erfahren, welche Inseln und Landmassen es auf dem Weg nach Westen gibt?
Es gibt ein frappierendes Indiz dafür: Kolumbus ließ auf seinen Schiffen die Segel so umbauen, dass sie für Vorwindkurse (der Laie spricht von “Rückenwind”) besonders geeignet waren, aber nicht dafür, gegen den Wind an zu segeln. Das wäre freilich in Bezug auf die problemlose Rückkehr nach Spanien extrem leichtsinnig gewesen, es sei denn er wusste, dass es auch eine Route für den Rückweg gab, die – anders als die von östlichen Winden bestimmte Äquatorialregion – von westlichen Winden dominiert wird. Woher wusste Kolumbus, dass ihn eine nördlicher verlaufende subarktische Westwindzone von Amerika sicher zurück nach Hause bringen würde? Von den Wikingern beziehungsweise ihren Nachfolgern?
Es spricht manches dafür, dass Kolumbus bereits vor seiner Abreise in die Neue Welt von Vinland wusste – und von den vorherrschenden Winden auf dem Weg dorthin und zurück. Wenn es so ist: Kann er dann als Entdecker gelten?
Lange vor Kolumbus: Reger Schiffsverkehr über den Atlantik
Schiffsreisen nach Amerika waren nicht nur lange vor Kolumbus technisch möglich. Es wäre sogar eher Zufall, wenn sie – nach den Fahrten der Wikinger – nicht auch bereits vor dem Jahr 1493 stattgefunden hätten.
Die europäischen Siedler, die nachweislich mindestens von 985 bis 1408, also mehr als 400 Jahre, an Grönlands Westküste gelebt haben, müssen nach Ansicht von Historikern intensiven Handel mit Walrosselfenbein und Eisbärfellen getrieben haben. Dies war nur mit regelmäßigem Schiffsverkehr von Grönland über Island zum europäischen Kontinent möglich. Und wenn es diese Verbindung gab, dann war die Fahrt nach Westen, also über die Davisstraße nach Amerika, nur so etwas wie eine Kleinigkeit. Und dann wäre es sehr wahrscheinlich gewesen, dass man im norwegischen Bergen, und sicherlich auch darüber hinaus, ebenfalls von Vinland gewusst hat. Nicht nur durch die Sagas, sondern durch aktuellere Informationen.
Nicht nur die klassische Wikingerroute von Bergen gen Westen wurde vor 1492 befahren: Ein von der Hanse errichtetes Handelsmonopol auf isländischen Kabeljau wurde, soviel steht fest, in den 1480er Jahren von Fischhändlern aus Bristol auf unerklärliche Weise umgangen. Es gibt unterschiedliche Interpretationen, ob es englische oder baskische Fischer waren, die diesen Kabeljau irgendwo anders in großen Mengen fischten. Aber es spricht vieles dafür, dass sie es, egal woher sie stammten, auf den Grand Banks vor Neufundland taten – rund 100 Seemeilen von der amerikanischen Küste entfernt. Selbstredend hielten sie jene Fischgründe, die sie reich machten, geheim. Und so gibt es bis heute keine Belege für diese Hypothese. Und niemand weiß, ob diese unbekannten Fischer aus Europa eventuell amerikanischen Boden betraten, nachdem sie einfach noch ein paar Stunden weiter nach Westen gesegelt waren.
Noch konkretere Hinweise auf das erneute Erreichen Amerikas durch Europäer vor 1492 finden sich in einer vom dänischen Wissenschaftler Sofus Larsen bereits 1925 veröffentlichten Forschungsarbeit, nach der zwei deutsche Kapitäne namens Didrik Pining und Hans Pothorst bereits zwanzig Jahre vor Kolumbus den amerikanischen Kontinent betreten haben könnten. Larsen stützte sich dabei auf ein Schreiben aus dem Jahr 1551 an den dänischen König, in dem dies recht unzweifelhaft formuliert ist. Eine Expedition sei ausgesandt worden, “um im Norden neue Inseln und Länder aufzusuchen“, heißt es darin. Die beiden Deutschen, so Larsen, seien zunächst nach Island und dann nach Grönland gesegelt, Länder, die der dänischen Krone unterstanden und zur bekannten Welt gehörten. “Neue Inseln und Länder” dahinter – das konnte nur den amerikanischen Kontinent betreffen.
Das historische Schreiben ist kein Beweis für diese Reise, die Sofus Larsen in etwa auf das Jahr 1473 terminiert hat. Aber nach allem, was wir mittlerweile wissen, ist es keineswegs unwahrscheinlich, dass sie so stattgefunden haben könnte. Nautisch wäre es keine Überraschung – auch nicht in Bezug auf deutsche Seefahrer. Bereits für das Jahr 1423 ist etwa aktenkundig, dass ein Kauffahrteischiff aus Hamburg den west-isländischen Hafen Básendar angelaufen hat. Das war schon etwa die halbe Strecke nach Amerika – 70 Jahre vor Kolumbus.
Kostenloses eBook zu Didrik Pinings Fahrt nach Amerika im Jahre 1473:
Ralf-Thomas Hillebrand: “Die Wiederentdeckung Vinlands”; In: “Nordmeer – Historische Kurzgeschichten aus der nordischen Seefahrt – nach wahren Begebenheiten (Band 1)”, Berlin 2019. Download (gratis): www.ralf-thomas-hillebrand.de/vinland